Die wöchentliche Zusammenfassung von dem, was in der Welt der Biomechanik so passiert.
Am vergangenen Samstag wurde in Sports Engineering eine technische Notiz veröffentlicht, die unsere Aufmerksamkeit erregte. Eine Gruppe von Forschern testete die Zuverlässigkeit eines instrumentierten Mundschutzes mit dem Ziel, Schläge auf den Kopf während der Spiele der Rugby Union zu messen. Wir sprechen erstmal über die ziemlich interessante Geschichte der Forschung zu Kopfverletzungen, bevor wir die Studie vorstellen. Außerdem schreibt Jonas über die Erfahrungen, die er in den letzten zwei Wochen bei den Special Topics in Sports Engineering 2020 gesammelt hat. Also schnapp dir einen Kaffee und genieß‘ den Artikel!
- Vergleich von Kopfaufschlagmessungen mittels eines instrumentierten Mundschutzes und einer anthropometrischen Prüfeinrichtung
- Special Topics in Sports Engineering 2020
Vergleich von Kopfaufschlagmessungen mittels eines instrumentierten Mundschutzes und einer anthropometrischen Prüfeinrichtung
Die Langzeitfolgen von (Mikro-)Gehirnerschütterungen und wiederholten Schlägen auf den Kopf beim Kontaktsport erregen aufgrund dramatischer und tragischer Einzelfälle immer wieder Aufmerksamkeit. Aber nicht nur langfristig treten Probleme auf, im Rugby, im American Football, im Eishockey und im Boxen machen Verletzungen nach einem Zusammenstoß 12-33% aller zeitlich begrenzten Ausfälle aus.
In der wissenschaftlichen Literatur wird die sogenannte Kopfaufprall-Exposition (im englischen ‚Head Impact Exposure‘, HIE) verwendet, um die Anzahl der Beschleunigungen des Kopfes überhalb einer normalen Schwelle zu beschreiben, die eine Person bei einer Kontaktsportart erfährt. Dieser Faktor ist zwar äusserst praktisch, um die Risikoexposition in verschiedenen Kontaktsportarten zu vergleichen, doch ist auch eine standardisierte Methode zur Messung und Berechnung der HIE selbst erforderlich. Eine Reihe von Studien haben bereits mehrere Möglichkeiten diskutiert (schau dir die Referenzen des Papers an, wenn du mehr darüber lesen möchtest). Um die Beschleunigung zu messen, kann man entweder eine markerbasierte Videoanalyse oder Trägheitssensoren verwenden. Die Schwere der Stöße wird durch mehrere Paramter beschrieben, wie z.B. das Kopfverletzungskriterium (‚Head Injury Criterion‘, HIC). Diese Methode integriert die gemessene Beschleunigung über eine bestimmte Zeitspanne (z. B. 15 ms) um die lineare Spitzenbeschleunigung herum. Andere Verfahren kombinieren lineare Beschleunigung, Rotationsbeschleunigung, HIC und andere Variablen zu einem einzigen Score, was sich als die beste Methode zur Vorhersage einer Gehirnerschütterung erwiesen hat (sie wird als Head Impact Telemetry Severity Profile, oder HITSP bezeichnet).
Traditionell konzentrierten sich Studien dieser Art auf Sportarten in denen Helme gtragen werden. Beschleunigungsmesser und die notwendige Elektronik konnten im Helm untergebracht werden, mit mehreren Beschleunigungsmessern konnte auch die Rotationsbeschleunigung gemessen werden. In letzter Zeit rückte Kontaktsport ohne Helme in den Fokus der Wissenschaft. Zwar wurden auf der Haut montierte Sensoren verwendet und mehrere Validierungsstudien durchgeführt, es hat sich jedoch gezeigt, dass die Sensoren Probleme bei der Abschätzung der Bewegung der Haut relativ zum darunter liegenden Knochen haben. Bei niedrigen Aufprallgeschwindigkeiten war dies in Ordnung, aber bei höheren Geschwindigkeiten wurde es ziemlich ungenau.
Daher begannen mehrere Forschergruppen mit einem instrumentierten, also mit Sensoren ausgestattetem Mundschutz (Achtung, das ist kein Mund-Nase Schutz, sondern Mouth Guards die du z.B. vom Boxen kennst) zu arbeiten. 2010 wurde eine Studie mit einem einzigen zweiachsigen Beschleunigungsmesser durchgeführt. Später wurden dann drei Beschleunigungsmesser verwendet, und schließlich kamen dreiachsige Beschleunigungsmesser plus gyroskopische Sensoren zum Einsatz. Dies ermöglichte dann die Erfassung gründlicherer Datensätze, und es wurden mehrere Studien mit Athleten aus dem American Football, Boxen und MMA durchgeführt. Der absolute Vorteil eines instrumentierten Mundschutzes gegenüber hautbasierten Sensoren ist die Möglichkeit, diesen auch im Leistungssport und nicht nur für Feldversuche zu verwenden, da diese Mundschützer den Regularien entsprechen, wähnrend Kleidungs- oder hautbasierte Sensoren oft verboten sind. Es könnte möglich sein, die HIE eines einzelnen Spielers pro Spiel, Saison oder sogar pro Karriere zu quantifizieren und die Vorschriften zugunsten des Wohlergehens des Athleten anzupassen.
Soweit so gut, jetzt kommen wir zu dem was die Forscher getan haben, abgesehen von der Zusammenfassung der aufschlussreichen Geschichte der HIE-Forschung. Es wurde ein Pendel konstruiert, bei dem ein zylindrisches Gewicht (8,69 kg) auf einen instrumentierten Dummy schlug. Die Gruppe benutzte ein Labor, das normalerweise die Fahrzeugsicherheit untersucht.

https://link.springer.com/article/10.1007/s12283-020-00324-z
Nach der Durchführung von mehreren Tests fand die Gruppe keine signifikanten Unterschiede zwischen Test- und Wiederholungstest und kam daher zu dem Schluss, dass es sich um eine reliable Messung handelt. Auch der instrumentierte Mundschutz schien im Vergleich zwischen verschiedenen Messsystemen valide Ergebnisse zu zeigen. Wenn du dich für den genauen Aufbau, die Sensorspezifikationen und Details der Methoden interessierst schau am besten in das Paper, da es vollständig als Open Source verfügbar ist.
Wenn du mit den Details die wir hier gezeigt haben zufrieden bist, lass uns mit der Feststellung schließen, dass diese Methode ziemlich gut zu funktionieren scheint und viele verschiedene Feldstudien ermöglicht. Besonders die Möglichkeit, die langfristige Exposition während des Trainings und der Wettkämpfe zu verfolgen und vielleicht dementsprechend die Vorschriften anzupassen, erscheint uns äußerst vielversprechend.
Wir sind gespannt, welche Ideen andere Gruppen mit diesem Instrument entwickeln werden!
Greybe, D.G., Jones, C.M., Brown, M.R. et al. Comparison of head impact measurements via an instrumented mouthguard and an anthropometric testing device. Sports Eng. 23, 12 (2020). https://doi.org/10.1007/s12283-020-00324-z
Special Topics in Sports Engineering 2020
Ein Rückblick von Jonas Ebbecke
Dieses Jahr war ich in der glücklichen Lage, dass ich an dem zweiwöchigen Programm „Special Topics in Sports Engineering“ teilnehmen konnte. Dies ist ein jährlich stattfindendes Intensivprogramm der TU Delft, bei dem jeder interessierte Master Student mit akademischen Hintergründen wie Biomechanik, (Sport-) Ingenieurswesen, Sportwissenschaften o.Ä. teilnehmen kann. Dabei sind auch internationale Studenten (so wie ich aus Deutschland) herzlich eingeladen. Das übergeordnete Ziel dieses Kurses ist es, nach diesen Zwei Wochen in der Lage zu sein, ein mathematisches Modell aufzustellen, welches die Zielzeit eines Radsportlers auf einer bestimmten Strecke vorhersagen kann. Leider wurde dieses Programm (wie eigentlich alle Veranstaltungen in diesem Jahr) zum ersten Mal online und nicht mit Anwesenheit durchgeführt.
Die Grundlagen für das angestrebte Modell wurden in diversen Vorlesungen gelegt. Diese wurden von Experten aus diversen Institutionen in den Niederlanden, Großbritannien, Dänemark und Deutschland gehalten. Hierbei wurden Themen wie Modellierung im Radsport, Radsport Dynamik, muskuloskelettale Modellierung, Sportaerodynamik, Thermophysiologie, Leistung im Ausdauersport, Materialdoping, Radsport Biomechanik und Fahrraddesign intensiv besprochen. Alle gelehrten Inhalte waren gut aufeinander abgestimmt und das Programm war klar ausgerichtet. Wir sollten lernen, wie der Mensch mit dem Sportgerät interagiert und wie man die Leistung im Radsport quantifizieren kann. Und das haben wir auch, denn die Vorlesungen waren nicht nur hoch interessant, sondern auch so konzipiert, dass komplexe Inhalte für jeden verständlich dargestellt wurden.
Gefestigt wurde das in den Vorlesungen gelernte durch insgesamt 3 Aufgaben, welche während des Intensivprogramms zu bewältigen waren. Dafür wurden wir in Kleingruppen von 4 Studenten aufgeteilt. Meine Gruppe bestand aus Jeroen van der Knaap und Wessel van Veenen aus den Niederlanden sowie Leonard Arnold und mir aus Deutschland. Keiner von uns kannte sich zuvor, doch die Gruppe passte gut zusammen und so hat es viel Spaß gemacht, gemeinsam den besten Lösungsweg zu den jeweiligen Aufgaben zu finden.
Die erste Aufgabe bestand darin, die Widerstandskräfte eines Athleten beim Radfahren zu bestimmen und in der zweiten mussten wir die physiologische Kapazität dieses Athleten bestimmen. Als Testperson stellte sich Jeroen zur Verfügung, denn sein Rennrad war mit der richtigen Messtechnik ausgestattet, sodass er ein alle nötigen Experimente durchführen konnte (und ja – dabei hat er ab und zu richtig gelitten). Bei der dritten Aufgabe galt es, all unser neuerlerntes Wissen und die Ergebnisse der ersten beiden Gruppenarbeiten zu kombinieren und ein mathematisches Modell zu entwickeln, welche die Zielzeit eins 400 m Zeitfahrens vorhersagt. Das hat bei unserer Gruppe erstaunlich gut funktioniert. Falls Dich die Ergebnisse interessieren, kannst Du dir unseren Abschlussbericht hier gerne nachlesen.
Doch das reine Wissen und dessen Anwendung in der Praxis ist nur ein Teil des in den zwei Wochen Gelernte gewesen. Für mich war es noch interessanter, neue Leute aus anderen Fachgebieten und deren Denkweise kennen zu lernen. Das gesamte Gebiet rund um Sportwissenschaft, -biomechanik und -ingenieurswesen ist extrem groß und facettenreich und dennoch sind die Übergänge dazwischen fließend und am Ende gehört doch irgendwie alles unter ein Dach. Hier ist es besonders wichtig sich mit Menschen aus allen Richtungen zu vernetzen und zu verstehen. Das hätte wahrscheinlich noch besser funktioniert, wenn wir die alle das Programm in Delft absolviert hätten, aber das soll den Gewinn, den wir alle davongetragen haben, nicht schmälern.
Vielen Dank an dieser Stelle an mein Team und an die Veranstalter für die großartige Zeit!